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Anekdoten und Wissenswertes über die Chilbi - Anecdotes et faits intéressants sur les fâites forains (en allemand)


Aus der Ausstellung «Chilbi» im Historischen Museum Luzern (fand statt vom 20 Mai bis 16 Okt 2016)

De l'exposition "Chilbi" au Musée historique de Lucerne (a eu lieu du 20 mai au 16 octobre 2016)

CHILBI

Von Zuckerwatte, Karussells und Schaustellern

Der Duft von Magenbrot und gebrannten Mandeln hängt in der Luft, farbige Lichter flimmern in der Nacht und hoch über den Köpfen kreischen Menschen vor Freude: Willkommen an der Chilbi!

Die Ausstellung im Historischen Museum Luzern taucht mit allen Sinnen in die einmalige Welt der Chilbi ein, wirft einen Blick in die Vergangenheit und hinter die glitzernde Kulisse: Was macht den Reiz dieses Volksfestes aus? Weshalb wird uns nostalgisch ums Herz, wenn wir Magenbrot riechen? Und: Wieso bereitet es dem Menschen Vergnügen, von einer Maschine auf den Kopf gestellt zu werden?

Ausgestattet mit einem Chilbi-Sackgeld in Form von Jetons gehen die Besucherinnen und Besucher auf Entdeckungstour. Entlang historischer sowie gegenwärtiger Chilbi-Exponate werden verschiedene Facetten dieser Alltagskultur beleuchtet.

Schaustellerinnen und Schausteller erzählen in Audio-Porträts von den Sonnen- und Schattenseiten ihrer Arbeit und ermöglichen einen persönlichen Blick hinter die Kulissen.

 Plakat der Ausstellung

1. Kleine Geschichte der Chilbi

Woher kommt das Wort «Chilbi»? 

KIRCH WEIHE 

CHILE WIHI 

CHIL BI 

Von der Kirchweihe zur Chilbi

Die Kirchweihe ist das jährliche Gedächtnisfest an die Kircheneinweihung, das am Feiertag des Kirchenpatrons stattfindet. Parallel zur kirchlichen Feier entwickelte sich jenes Fest, das heute meistens mit Chilbi gemeint ist: ein weltliches Volksfest und gesellschaftliches Ereignis, das nur wenig mit Besinnlichkeit und Andacht zu tun hat. Der geistlichen und weltlichen Obrigkeit waren diese Volksfeste ein Dorn im Auge, weil damit regelmässig lustvolle Ausschweifungen einhergingen. Gleichzeitig war man sich der Wichtigkeit dieses kontrollierten Ausbruchs aus dem Alltag bewusst. Der Chilbitag war einer der wenigen Tage im Jahr, an denen Tanzen, Trinken und Spielen von der Kirche und der Obrigkeit geduldet wurde. Dass sich Kirchweihen oft mit anderen Festen vermischen, zeigt sich auch in Luzern: Warenmarkt, Kirchweihe und Jahrmarkt wuchsen zu einem grossen Volksfest zusammen, der Luzerner Herbstmesse oder kurz «Määs».

Stummfilm Kirchweihe Horgen, 1924 

Der eindrückliche Film zeigt, wie es an einer Chilbi um 1920 ausgesehen hat. Gedreht wurde der Film vom Wanderkino-Besitzer Willy Leuzinger, der eine geschickte Strategie hatte, um Besucher in sein Kino an der Chilbi zu locken: Am Nachmittag filmte er die staunend in die Kamera blickenden Leute beim Gang über den Chilbi-Platz, später konnten sie sich selber in bewegten Bildern anschauen.

2.  Schaubudenzauber von früher bis heute

Kettensprenger, «Dicke Berta», Tierbändiger und Hühneraugenvertreiber gehörten zu den Attraktionen, als noch Schaubuden statt Bahnen die Chilbi dominierten. Die Vorläufer der Schausteller brachten im Mittelalter als Gaukler mit ihren Schaubuden die Welt und Abwechslung in die Dörfer und Städte. In einer Zeit, in der es noch kein Fernsehen gab, übernahmen die Schausteller gleichzeitig die Rolle der Nachrichtenüberbringer und der packenden Unterhalter. Wahrheit und Fiktion lagen bei den geheimnisvollen Attraktionen nahe beieinander und mit Superlativen wurde bei deren Anpreisung nicht gespart. Der Beruf der Schausteller hat sich seither stark verändert. Die meisten stellen nicht mehr sich selber, sondern ihre Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäfte zur Schau − und wohnen lieber in einem Haus statt im Wohnwagen. 

Schausteller Otto Baader mit Bär, 1930er-Jahre 

Schon im Mittelalter zogen Wandermenagerien von Chilbi zu Chilbi und präsentierten den Menschen zuvor unbekannte wilde und exotische Tiere. Zu einer Zeit, als es noch keine Zoos und kaum Bildmaterial aus fernen Ländern gab, war das Vorführen von Bären, Affen und Elefanten lehrreiche Information und Nervenkitzel zugleich. 

Schaustellerin mit Schlange, 1940 

Auf der «Parade», der Vorbühne der eigentlichen Schaubude, wurden Kostproben der Attraktionen geboten. Der erotisch konnotierte Tanz der hübschen Frau mit der Schlange sollte möglichst viel Publikum zum Bezahlen und Eintreten anlocken. 

Der Riese Constantin, um 1900 

Julius Koch, auch bekannt als «Géant Constantin», war 2.58m gross und wurde in Varietés in ganz Europa als Riese inszeniert. Der an Gigantismus leidende Koch starb 1902 mit nur 29 Jahren. Seine Mutter stammte aus Mauensee. 

Gross und Klein, um 1920 

Ein Schausteller mit der kleinwüchsigen «Prinzessin Elisabeth, der lebenden Puppe». Oft traten auch Riesen mit Kleinwüchsigen zusammen auf, um die extremen Körpergrössen zu unterstreichen. 

«Dicke Berta», 1950er-Jahre 

Paula Gosteli-Sonderegger (1910−1972) trat beim legendären Schaubuden-Besitzer Pius Buser unter dem Künstlernamen «Dicke Berta» auf und wurde als schwerste Frau der Schweiz beworben. Gegen einen Eintrittspreis durfte die stark übergewichtige Frau im Wagen angeschaut werden. 

Kettensprenger Charly de Kiswarth, 1960 

Demonstrierte an der Luzerner Herbstmesse seine Kraft 

Völkerschau der Familie Morgenthaler, um 1950 

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden «exotische» Völker auf Chilbis zur Schau gestellt. So wie bei der Präsentation von Menschen mit einer Erkrankung oder dem Vorführen von wilden Tieren dominierte bei solchen Völkerschauen die Faszination am Fremden. Man fand daran lange nichts Anstössiges.

Daniel Kägi, Chilbi-Modelle, 1979–1997 

Bitte Jeton einwerfen und das Licht geht an. Der Chilbi-Fan Daniel Kägi baute in seiner Freizeit in minutiöser Arbeit die Fahrgeschäfte und Schaubuden der Schweizer Chilbi-Plätze nach.

3. Flirten an der Chilbi

Die Chilbi ist − egal ob auf dem Land oder in der Stadt − für viele Leute ein Fixdatum im Jahr und vor allem für junge Leute ein Ort, um zu sehen und gesehen zu werden. Nicht nur die Schausteller stellen sich an der Chilbi wortwörtlich «zur Schau», auch das Publikum inszeniert sich – denn was wäre ein «Hau den Lukas» ohne Zuschauer, denen man sich beweisen kann? Die Chilbi bietet mit ihren engen Autoskooter-Sitzen und Schüttelbechern viele Möglichkeiten, sich näherzukommen, und sie weist Ähnlichkeiten mit einem Wettkampf-Platz auf: Wer ist die oder der Mutigste, Stärkste oder Geschickteste? Als Preise winken Ruhm und Ehre, eine Plastik-Rose oder mit Glück sogar die Liebe. Das Aussehen der Kraftmessautomaten und Autoskooter hat sich über die Zeit hinweg zwar gewandelt, die Funktionen dieser Maschinen für das Publikum blieben aber ähnlich: flirten, Spass haben, umeinander werben.


4. Die Autoskooter oder "Putschiautos" 

«Autodrom» des Ehepaars Weidauer, ca. 1930er-Jahre 

Vor dem Zweiten Weltkrieg konnten sich nur wohlhabende Personen ein Auto leisten. Die «Autodrome», die damals auf der Chilbi gastierten, ermöglichten dem Normalbürger das Imitieren dieses neuen Fahrgefühls. Die Fahrrichtung war vorgegeben: strikte im Kreis herum. Teilweise fuhren die Vorläufer des Autoskooters sogar mit Benzin, ab Ende 1930er-Jahre wurden die meisten über einen Stromabnehmer an der Decke betrieben. Die Orgel in der Mitte untermalte mit der typischen Chilbi-Musik das Autofahren.

Anstossen & anfahren verboten», Chilbi Wädenswil, 1944 

1944 durfte auf dem Autoskooter des Ehepaars Weidauer bereits frei auf einer Fläche gefahren werden, jedoch war «Anstossen & anfahren verboten», wie das Schild an der Kasse mahnt. Der Vollgummi-Puffer der damaligen Autos, verstärkt mit Eisenband, dämpfte Schläge nicht genügend ab. Die heute bekannten Gummipneus kamen erst Mitte der 1950er-Jahre auf. 

Autoskooter-Serie 

Die Fotos der Autoskooter-Hallen stammen aus drei Jahrzehnten. Die Kleider der Jugendlichen haben sich im Verlauf der Jahre geändert, die «Putschi-Autos» ebenfalls. Gleich geblieben ist der Stellenwert dieses Fahrgeschäfts als Treffpunkt für Jugendliche. Zwischen dem traditionellen Chilbi-Tanz und den Autoskooter-Hallen gibt es einige Parallelen: Die Autoskooter-Halle erinnert mit ihren blinkenden Lichtern und der lauten Musik an eine Disco, auf deren Tanzfläche es darum geht, wer am geschicktesten das Auto steuert und noch wichtiger, wer wen zum Mitfahren einlädt.


5. Alles dreht sich

Die Industrialisierung und die damit einhergehende Technisierung der Gesellschaft machten sich auch auf den Chilbi-Plätzen bemerkbar. Neuheiten wie die Dampfmaschine oder die Verbreitung von Elektrizität eröffneten ab dem späten 19. Jahrhundert ganz neue Möglichkeiten für den Antrieb und die Beleuchtung von Karussells und Co. Und es geht immer weiter. Aus der langsam kreisenden Bewegung des dampfbetriebenen Karussells entwickelten sich allmählich rasante Berg-und-Tal-Bahnen und schliesslich die hydraulisch gesteuerten Überkopfbahnen und Meisterwerke der modernen Ingenieurskunst. Heutige Maschinen gehen an das für den menschlichen Körper gerade noch ertragbare Limit. Nach oben sind (fast) keine Grenzen gesetzt, ganz nach dem Motto: schneller, höher, stärker. Aber wieso will der Mensch überhaupt von einer Maschine durch die Luft gewirbelt werden? Der Erfolg solcher Bahnen liegt in der intensiven körperlichen Erfahrung. Das ständige Kreisen und Auf und Ab führt zu einem regelrechten Rauschzustand. Alles dreht sich und man weiss: Die nächsten Sekunden muss man sich der Bewegung hingeben oder es wird einem elendiglich schlecht. 

Kreisch! «Geister-Express», Zürich, 1956
 
Es ist stockdunkel, das Geisterbahn-Wägelchen fährt langsam durch die Kulissen, und plötzlich: ein Blitzlicht und ein grusliges Skelett kippt aus einem Sarg! Der Reiz an Geisterbahnen liegt darin, dass die Stresssituation zeitlich beschränkt ist. Dieser «Geister-Express» von Edy Meier stand 1956 auch an der Frühlingsmesse in Luzern. 

Film «Mutige Todesfahrer an der Chilbi», 1968 

Schausteller Charles Senn fährt im Film von 1968 riskante Motorrad-Formationen in der Steilwand und spricht im Interview über das Spiel mit der Gefahr. Charles Senn ist heute Präsident der Vereinigten Schausteller-Verbände der Schweiz.


7. Hauptsache süss, fettig und berauschend

Ein Besuch auf der Chilbi ist ein sinnliches Erlebnis: Der süsse Geruch von frisch gebrannten Mandeln, die klebrige Zuckerwatte an den Fingern und das Rosa der Magenbrot-Tüten wecken Chilbi-Erinnerungen und lassen einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Essen und Trinken gehören zur Chilbi dazu. Bevorzugt wird alles, was die Sinne und Geschmacksnerven berauscht: viel Zucker, Fett und Alkohol. Schon der bekannte Luzerner Stadtschreiber Renward Cysat (1545–1614) berichtet in seiner Chronik der damaligen Gesellschaft von kalorienreichen Ess- und Trinkwaren, die an einer «kilchwyche» aufgetischt wurden: «ancken- vnd zigerböcke, honig, brot, suffen [eine Art süsse Molke], nydlen, milch etc.»

Wie viel Zucker steckt in einer Zuckerwatte? 

Eine Portion Zuckerwatte besteht aus überraschend wenig Kristallzucker, nämlich nur etwa einem Esslöffel. Durch die Zentrifugalkraft wird der geschmolzene Zucker an den Wannenrand geschleudert, kühlt dabei ab und erstarrt zu Fäden. Diese Fäden ergeben ein zuckriges Gebilde, das an Watte erinnert. 

Magenbrot
 
Magenbrot wurde früher in Apotheken verkauft und erhielt seinen Namen wegen den verdauungsfreundlichen Gewürzen im Lebkuchenteig

Magenbrotsäcke 

Typisches Merkmal für das Magenbrot ist seine rosa Verpackung. Nur wenige Markthändler setzen beim Verkauf des süssen Lebkuchens auf eine andere Farbe. Wieso aber für die Papiersäcke die Farbe rosa gewählt wurde, wissen nicht einmal die Magenbrot-Hersteller. 


8. Die Zukunft der Chilbi?

Die Chilbi gehört zum lebendigen Kulturgut der Schweiz. Sie ist deshalb lebendig, weil sie niemals stillsteht, sich immer weiterentwickelt und so vor immer neue Herausforderungen gestellt wird. Wie jedes Gewerbe ist auch die Chilbi wirtschaftlichen Faktoren unterworfen. Chilbis finden traditionellerweise auf zentralen Dorfplätzen oder städtischen Brachen statt. Diese Freiräume werden im Zuge der Verdichtung des öffentlichen Raumes jedoch immer knapper. Eine Parallele zum «verdichteten Bauen» zeigt sich auch bei den Chilbi-Bahnen: Für Schausteller ist es wirtschaftlicher, eine schmale, dafür in die Höhe gebaute Bahn zu betreiben, als beispielsweise eine Autoskooter-Halle, die mehr Fläche einnimmt und daher mehr Platzgeld kostet. Auch eine kurze Auf- und Abbauzeit oder möglichst viele Sitzplätze pro Fahrt bringen mehr Geld ein. In diesem Spannungsfeld zwischen Tradition und kommerziellen Interessen wird die Chilbi zum politischen Thema, nämlich dann, wenn es um die Frage geht, wie der öffentliche Raum genutzt werden soll. Was ist wichtiger: der Erhalt eines Kulturgutes oder die wirtschaftliche Nutzung eines Raumes? Solche Debatten spielen sich (meist) hinter der Kulisse ab. Vor der Kulisse aber, an der farbig leuchtenden Chilbi, werden die Besucher weiterhin eine sorglose Zeit verbringen, fernab vom grauen Alltag.


Texte: Sibylle Gerber, Kuratorin der Ausstellung "Chilbi" 
Redaktion: Walti Mathis, Ressortleiter Vermittlung

Link:
CHILBI - Von Zuckerwatte, Karussells und Schaustellern



Verknüpft mitOtto Baader; Pius Buser; Hans (Johannes) Morgenthaler

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